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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben
eine zweite Chance verdient!
DIE GRÜNEN sind in der Krise - ihnen fehlt programmatische
Orientierung, Einigkeit im politischen Handeln und die WählerInnen
wenden sich auch ab. So könnte man die Sicht der Leitartikler
und der Öffentlichkeit auf die Partei BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN nach nunmehr acht Monaten Regierungsbeteiligung
zusammenfassen. Wir meinen, die GRÜNEN stehen in der
Tat am Scheideweg: Entweder sie katapultieren sich selbst
zunehmend in die Bedeutungslosigkeit oder sie stellen sich
endlich auch als Partei ihrer Verantwortung zur Gestaltung
dieser Republik.
Das GRÜNE-Programm gleicht mittlerweile einem Dachboden:
Alles, was einem früher gut gefallen hat, aber längst ausrangiert
ist, landet dort. Man weiß ja nie, wozu es noch gut sein wird
und kann sich so schlecht trennen. Erst ein Umzug bietet dann
meist die Chance, den übervollen Dachboden vor dem Einsturz
zu bewahren. Nicht nur der Bundestag zieht von Bonn nach Berlin
auch Bündnis 90/Die Grünen müssen, wenn auch verspätet in
den 90ern ankommen und die Weichen für das 21. Jahrhundert
stellen. Entweder wir warten nostalgisch im Muff von 20 alternativen
Jahren bis der Dachboden einstürzt oder wir ziehen um. Es
ist Zeit für eine erneuerte bündnisgrüne Partei, denn eine
Reformpartei, die sich selbst nicht reformieren kann, wird
unglaubwürdig. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben eine zweite Chance
verdient und eine zweite Generation nötig.
Die zweite Generation konstituiert sich nicht allein über
das Alter, sondern über den Politikstil. Wir Jungen als Teil
der zweiten Generation wollen und können dem Treiben der vielen
moralisierenden Besserwisser in unserer Partei aus der Gründergeneration
nicht mehr tatenlos zusehen: Wir sind es leid, unsere Altersgenossen
scharenweise zu anderen Parteien abwandern zu sehen und angesprochen
auf unsere Aktivitäten bei den GRÜNEN nur mehr mitfühlende
Anteilnahme zu ernten. Die Zeit des Burgfriedens und der Formelkompromisse
ist vorbei - es bedarf einer klaren Entscheidung über den
richtigen Weg der Partei in der Zukunft. Wir treten dabei
ein, für eine klare, machtbewußte, pragmatische Positionierung,
aber auch für eine teilweise Auswechslung der Mitgliedschaft:
Wer zur Nichtwahl von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei der Europawahl
aufgerufen hat, die Zahlung von Mitgliedsbeiträgen einstellt,
sich in Netzwerken zusammenschließt, einzig mit dem Ziel Mehrheitsbeschlüsse
der Partei zu torpedieren, und wer sich explizit allen Wahlkampfaktivitäten
verweigert, sollte sich überlegen, ob er nicht in einer linken
Folkloregruppe besser aufgehoben ist, als in einer Partei.
Wir haben den Eindruck, daß noch nicht alle in der Partei die neue Rolle
als Regierungspartei angenommen haben. Anders ist das Treffen
von Basisgrün am 6. Juni 1999 nicht zu erklären. Da kommen
erwachsene Menschen - zur Basis gehören, wenn es ins Konzept
paßt, auch Bundes- und Landtagsabgeordnete - zusammen, um
sich gegenseitig zu versichern, daß sie die besseren GRÜNEN
sind. Nach der Regierungsbeteiligung in Bonn muß doch weiterhin
jemand verantwortlich - jemand schuld sein -, daß aus Deutschland
immer noch nicht GRÜNland geworden ist. Anstatt, daß jeder
Einzelne für sich das Wünschbare von dem Machbaren trennt,
Fehler der Vergangenheit zugibt, um sich auf das Richtige
für morgen zu konzentrieren und Lebenslügen aus Oppositionstagen
endlich auch als solche wahrnimmt, wird diese Aufgabe delegiert.
Die einen für das Gutgemeinte, bestenfalls das Gutgedachte,
die anderen für das im Rahmen des möglichen Gutgemachte -
diese Arbeitsteilung mochte in der Opposition vielleicht noch
funktionieren, für eine Regierungspartei ist sie schädlich.
Die Verantwortungslosigkeit der ersten Gruppe geht soweit,
daß sie sich noch nicht einmal für die Kompromisse der
zweiten Gruppe in Haftung nehmen lassen will. So bleiben die
einen für das gute Gewissen zuständig und die anderen sollen
sich die Hände im Alltagsgeschäft schmutzig machen. Früher
war Helmut Kohl an allem Schuld. Kohl ist weg und da man sich
nicht mehr mit der Bundesebene rausreden kann, müssen die
Rolle Helmut Kohls andere übernehmen. Was ihm früher angelastet
werden konnte, wendet sich jetzt gegen die Pragmatiker in
der eigenen Partei. An den Gutmenschen jedenfalls würden die
hehren programmatischen Ziele, die sich in 20 Jahren Parteigeschichte
auf dem Dachboden angesammelt haben, nicht scheitern.
Wir meinen, es ist Zeit, den Dachboden auszumisten, das Wertvolle
zu bewahren und das Vergangene, den Plunder zu entsorgen.
Schluß mit dem Ritual der alternativen Bewegung: Bündnis
90/Die Grünen sind eine Partei, wie andere auch. Wir sollten
nicht versuchen die besseren Menschen zu sein, sondern daran
arbeiten, die überzeugenderen Konzepte zu haben. Spätestens
in der Regierung zählt eben nur noch das Gutgemachte, nicht
mehr das Gutgemeinte.
Wem es reicht, das Richtige zu fordern, für den ist
eine Bewegung genau das richtige. Wer versucht, daß Mögliche
zu erreichen, der ist in einer Partei richtig. Wir sind in
eine Partei eingetreten und erwarten von ihr, daß sie mit
ihren bald 20 Jahren endlich erwachsen wird. Bewegung und
Partei in einem - wie es sich Basisgrün vorstellt -,
two in one also, das klingt nach Shampoo-, Waschmittel- und
Duschgelwerbung, aber nicht nach einer Partei, die den Anspruch
hat, unser Land verantwortlich zu regieren. Für wen unvermeidliche
Kompromisse mehr Frust als Lust sind, wer die Regierungsbeteiligung
lieber nörgelnd als konstruktiv begleiten will, wer glaubt
opponieren und regieren sei gleichzeitig möglich, der ist
herzlich eingeladen das zu tun - aber bitte in einer Bewegung
und nicht in unserer Partei. Das heißt nicht, sich Kritik
zu verschließen und schon gar nicht in blinde Gefolgschaft
zu verfallen. Aber die Kritik an der eigenen Partei als alleiniges
Prinzip, feste Institution und einzige politische Existenzberechtigung
für eine Gruppe innerhalb der Partei gleich mitzuliefern -
two in one eben - das kann auf Dauer nicht gutgehen.
Schluß mit der Mißtrauenskultur und dem Gebären immer
neuer Verschwörungstheorien:
Eine Grundüberzeugung vieler GRÜNER ist, daß alle
Funktionsträgerinnen und -träger mit ihrer Wahl eine
Metamorphose durchleben, die sie im Ergebnis zu mißtrauisch
zu beäugenden, unmittelbar vor dem Verrat der Ideale unserer
Partei stehenden Personen werden läßt. Nimmt man also gemeinhin
an, daß die Unterstützung eines Parteitages für eine Person
einen Vertrauensbeweis darstellt, so verhält es sich bei GRÜNEN
genau anders herum: Eine Wahl ist Ausdruck punktueller Übereinstimmung
und zugleich Startschuß für das Mißtrauen gegen "die da oben"
und den Wechsel des Gewählten in das Lager der potentiellen
Verräter. Man ist zwar irgendwie stolz auf seinen Außenminister,
aber der Argwohn überwiegt die Sympathie. Anders ist nicht
zu erklären, daß vor allen Dingen GRÜNE-Mitglieder in Folge
der Verhandlungen von Rambouillet der Verdacht umtrieb, hier
sei nicht ordentlich und nachdrücklich eine friedliche Lösung
gesucht worden. Eine Verschwörungstheorie ist schnell geboren:
Joschka Fischer wird wahlweise zum Falken oder zum von den
Amerikaner verführten Werkzeug. Diese Vermutung wird von den
selben Mitgliedern vorgetragen, die Joschka Fischer mit ihrer
Zustimmung zum GRÜNEN Kandidaten zur Bundestagswahl aufgestellt,
mit ihrer Stimme in den Bundestag gewählt und seinem Büro
in ständigen Telefonaten die Unabdingbarkeit eines Wahlkampfauftrittes
von ihm in ihrem Ort verdeutlicht haben. Diese Schizophrenie
muß ein Ende haben. Wer Kontrolle statt Erfolg zu seinem Credo
macht, soll zum Verfassungsschutz gehen, aber nicht in eine
Partei eintreten. Eine neue Vertrauenskultur muß geboren,
ein Miteinander von Partei und Fraktion zum Alltag werden.
Schluß mit den Geschichten von '68: Wir verstehen gut,
daß der Gründergeneration der Schritt von der Bewegung zur
Partei schwer fällt. Sahen sie sich doch selbst in den wilden
Tagen von 68 und danach als Avantgarde einer gesellschaftsverändernden
Bewegung. Sie haben damit viel erreicht, hierfür herzlichen
Dank und eine Bitte: Hört auf, die Republik mit den Geschichten
von damals zu nerven. Aktionsformen, die damals richtig waren,
sind es heute noch lange nicht. Erwartet nicht von uns Jungen,
daß wir so sind wie ihr. Ihr wart ja schließlich auch nicht
wie eure Eltern. Und noch eine Bitte: Habt mehr Mut, Eure
Fehler zuzugeben. Ja, ihr wart für ein anderes System. Ja,
ihr habt den ebenso wackeren wie erfolglosen Kampf mit dem
Kapital geführt. Ja, für euch waren Unternehmer Bestandteile
des Reichs des Bösen. Das war damals falsch, es ist es noch
heute und eigentlich wißt ihr das ja auch. Steht endlich dazu
und macht nicht jede eurer Reden zu einem eitlen Ritt durch
die Irrungen und Wirrungen eurer Lebensirrtümer. Zumindest
uns als zweite Generation interessiert es nicht, wie ihr euren
Frieden mit der sozialen Marktwirtschaft gemacht habt. Hauptsache,
es ist so. Für uns stellte sich die Systemfrage nur kurz,
dann war für uns klar, daß wir ja zu diesem System sagen,
obwohl wir seine Fehler erkennen und beheben wollen.
Und noch was liebe 68er: Bringt Euch nicht um die Früchte
Eurer eigenen Erfolge. Ihr habt damals gegen das klassische
Familienbild und für neue Lebensformen gestritten. Ihr wahrt
erfolgreich. Heute gibt es vielfältige Lebensformen mit Kindern
mit und ohne Trauschein. Sie alle verstehen sich selbstverständlich
als Familien. Jetzt kommt es darauf an, für diese Menschen
auch Politik zu machen. Wer bei dem Wort Familienpolitik immer
noch an den Muff der 60er Jahre denkt, lebt an den Realitäten
der Menschen vorbei und gesteht den Konservativen eine Definitionshoheit
zu, die sie schon lange nicht mehr haben.
Schluß mit der Identität von Lebensgefühl und Politik:
GRÜN sein und alternativ sein, sind heute zwei verschiedene
Dinge. Der Krawatten-Träger gehört genauso zu uns wie der
Birkenstock-Träger und wer beides zusammen anhat, ist auch
herzlich willkommen. Die Zeiten, in denen GRÜNE 10 Meter gegen
den Wind zu erkennen waren, sind vorbei. Es ist eben nicht
Aufgabe einer Partei den Menschen mit erhobenen Zeigefinger
den Besuch bei McDonalds zu vermiesen, sondern Anreize dafür
zu schaffen, daß unnötige Einwegverpackungen ersetzt oder
vermieden werden. Es ist eben nicht Aufgabe einer Partei den
Menschen vorzuschreiben, daß sie nur noch alle fünf Jahre
mit dem Flugzeug in den Urlaub fliegen dürfen, sondern die
steuerliche Ungleichbehandlung der Verkehrsmittel zu korrigieren.
Es ist eben nicht Aufgabe einer Partei Autofahrer zu verteufeln,
sondern umweltfreundlichere Alternativen zu schaffen. Eine
Partei ist kein Beichtvater, die über das Seelenheil ihrer
Schäfchen wacht, sondern ein Mittel um Rahmenbedingungen zu
schaffen und zu verändern. Die bisherige Abschottungs-Mentalität
hält viele Menschen davon ab, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beizutreten.
Die Menschen wollen in eine Partei eintreten und nicht in
einen Lebensentwurf. Für viele der Gründergeneration gibt
es da keinen Unterschied. Die Partei (bzw. Ihr Aufbau) ist
ihr Leben. Die zweite Generation bringt ihr Leben mit in die
Partei. Das ist eine Chance und kein Grund zur Verzweiflung.
Schluß mit der Furcht vor Verantwortung und Loyalität:
Früher mag die muntere alternative Truppe, die mit mindestens
vier verschiedenen Stimmen gesprochen hat, Charme versprüht
haben - heute steht der Hang zum Einzelkämpfertum und die
Vielstimmigkeit des GRÜNEN-Chors lediglich für Chaos und mangelnde
Professionalität. Da erklärt der eine Parteipromi heute das
eine, der andere morgen das andere und zu guter letzt bleibt
der verdutzte Zeitungsleser auch nicht vor dem Erklärungsversuch
eines dritten Parteipromis verschont, der erklärt, daß das
alles irgendwie doch zusammen paßt. Die Öffentlichkeit ist
verwirrt, aber die parteiinternen Strömungen sind beruhigt.
Die GRÜNEN haben die organisierte Verantwortungslosigkeit
zum Königsweg erklärt. Dieses Modell hat keine Zukunft, denn
der Charme der GRÜNEN-Partei muß in Zukunft sehr viel stärker
wieder in eindeutigen und glaubwürdigen Problemlösungsvorschlägen
liegen. Es ist ein lang gehegtes und weit verbreitetes, aber
nicht minder verfehltes Vorurteil, daß die Anerkennung von
Führungspersönlichkeiten und Loyalität zwangsläufig ein abgeschottetes
Gebilde wie den Korpsgeist zur Folge haben müssen. Das Gegenteil
ist richtig: Ohne von der Öffentlichkeit respektierte Repräsentantinnen
und Repräsentanten sowie das notwendige Mindestmaß an Loyalität
gegenüber diesen Personen wird sich der Erfolg nicht wieder
einstellen. Partei und Fraktion haben unterschiedliche Rollen,
müssen aber nach außen einer erkennbaren Richtung folgen.
Es bedarf weniger einer Debatte über die Strukturen, sondern
einem Besinnen auf die gemeinsame Verantwortung für die Partei:
Die Führungspersönlichkeiten müssen ihren Hang zur eitlen
Selbstdarstellung überwinden, die Partei den von ihr gewählten
Repräsentanten mehr Vertrauen entgegenbringen. Verantwortungsübernmahme
auf der einen Seite, muß Loyalität auf der anderen zur Folge
haben. Das ist kein Aufruf zu einem reinen Wahlverein. Allein
mit Sekundärtugenden läßt sich ein Land nicht regieren, ganz
ohne allerdings auch nicht.
Schluß mit Unprofessionalität und Sprachlosigkeit:
GRÜNE hatten als Bewegung einen klaren Empfängerkreis für
ihre Botschaften. Es war dabei nicht erheblich, daß die politischen
Forderungen sich indifferent darstellten - das Milieu war
grundsätzlich positiv eingestellt und Widerstände waren lediglich
auf der Ebene der Einzelfrage zu erwarten. Heute stehen GRÜNE
als Partei vor der Aufgabe, daß sie aus einer defensiven Position
- GRÜN sein ist megaout - Menschen mit erheblichen Vorbehalten
und unterschiedlichen Lebenseinstellungen von ihren Positionen
überzeugen müssen, wollen sie eine Zukunft haben. Hierzu bedarf
es einer professionellen Planung und Umsetzung der politischen
Arbeit: Programm und Koalitionsvertrag müssen systematisch
durchforstet, die Kernbotschaften, mit denen GRÜNE verbunden
werden sollten, herausgearbeitet und das gesamte Wirken von
Partei und Fraktion auf das Transportieren dieser Botschaften
ausgerichtet werden. Die Beliebigkeit in der Themenwahl muß
ein Ende haben. Die Bürgerinnen und Bürger und auch die Mitglieder
erwarten zu Recht, daß sich eine Partei um einen ganzen Bauchladen
von Themen kümmert, aber identifiziert wird sie immer nur
über eine Auswahl von Positionen.
Schluß mit dem Negieren der Parteientscheidungen in
der Wirklichkeit: Mit der Begründung einer neuen Vertrauenskultur
muß einhergehen, daß auch die Führungskräfte die Entscheidungen
der Parteitage ernstnehmen. Es muß für die eigenen Überzeugungen,
bzw. die Einsicht in die Undurchführbarkeit etwaiger Beschlüsse
gestritten werden, das Verlassen auf unselige Formelkompromisse
der verschiedenen Strömungen muß ein Ende haben. Die Partei
wird als Gruppe mit gemeinsamen Überzeugungen nur agieren
können, wenn es keine allzu große Kluft zwischen den Beschlüssen
der Partei und dem Agieren von Fraktion und Regierung gibt.
Das Verabschieden von Programmen ist bisher insbesondere von
den Realos als Abstimmung über unverbindliche und vor allem
folgenlose Ziele verstanden worden, die praktisch jedem Kompromiß
zugänglich sind. Auf der anderen Seite gibt es die weit verbreitete
Ansicht insbesondere bei den Linken, die programmatischen
Festlegungen wären eine Art Bibel, die nach dem Wortlaut umzusetzen
sind. Beide Ansichten bieten keine Perspektive: Während man
bei vielen Linken erhebliche Zweifel am für Regierungsverantwortung
notwendigen Realitätssinn und Machtwillen haben muß, ist bei
vielen Realos fraglich, ob hier noch etwas über den Machtwillen
hinaus verblieben ist. GRÜNE müssen als Reformmotor erkennbar
werden. Hierzu braucht es klare politische Entscheidungen,
die auch auf Parteitagen Mehrheiten finden müssen. Dafür zu
streiten, ist notwendig und wir sind dazu bereit. Wer die
Kluft zwischen programmatischem Anspruch und realem Handeln
weiter anwachsen läßt, führt die GRÜNEN in eine Glaubwürdigkeitslücke,
die eine wirkliche Gefahr für die Zukunft der Partei darstellen
würde. Insoweit hat die Regierungserfahrung auch für die Funktionsträgerinnen
und Funktionsträger eine wichtige Konsequenz, die noch nicht
bei allen angekommen ist: Sie müssen Farbe Bekennen, für ihre
Position nach innen ohne Wenn und Aber streiten und die Partei
auch mit unbequemen Wahrheiten konfrontieren, um nach außen
wieder ein erkennbares Profil zu erlangen.
Auf dem grünen Dachboden findet sich aber auch vieles,
was mit auf die Reise in ein neues programmisches Zuhause
genommen werden sollte. DIE GRÜNEN waren, sind und sollten
die Umweltpartei bleiben. Über den Tag hinaus denken, die
Folgen unseres Handelns für spätere Generationen bedenken
- das ist in der Umweltpolitik richtig und könnte auch in
der Haushalts- und Finanzpolitik zu einem unverwechselbaren
Profil werden. Schon heute sind die Grünen die Verfassungspatrioten
im deutschen Parteiengefüge. Während andere schon das Zitieren
von Grundgesetzpassagen als Zumutung empfinden, treten die
Grünen konsequent für die Werte unseres Grundgesetzes ein.
Sie verstehen Grundrechte auch als Minderheitenrechte und
betonen ihre Bedeutung als Abwehrrechte der Bürgerinnen und
Bürger gegen die Willkür staatlicher Stellen. DIE GRÜNEN sind
gefordert, ihre Bedeutung als Motor der Verfassungsreform
zu mehr direkter Demokratie auf der einen und der Bewahrung
der Freiheitlichkeit der grundgesetzlichen Ordnung auf der
anderen Seite zu unterstreichen. Das Pfund mit dem GRÜNE hier
wuchern könnten, haben die Debatten um die faktische Abschaffung
des Asylrechts und den Großen Lauschangriff gezeigt. Auch
in der Frauenpolitik haben die Grünen beachtliche Erfolge
erzielt. Sicher gab es auch viel, was gesellschaftliche Akzeptanz
für das richtige Ziel gekostet hat, aber die Grünen haben
unbestreitbar erreicht, das über die Rolle von Frauen in Politik,
Wirtschaft und Gesellschaft heute anders gedacht wird, als
vor 20 Jahren. Eine CDU Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten
hätte es wahrscheinlich ohne die Quote bei den Grünen nicht
gegeben. Und auch das konsequente Eintreten für Gewaltfreiheit
ist richtig, solange es nicht dazu führt, Menschenrechtsverletzungen
tatenlos zusehen zu müssen.
Darauf aufbauend bedarf es eines Gesellschaftsentwurfs, der
den Gestaltungswillen und die Gestaltungskraft der BürgerInnen
zum Ausgangspunkt wählt, der Realitäten berücksichtigt und
trotzdem eine große Idee hinter den pragmatischen Einzelschritten
erkennen läßt. Weder der Marktradikalismus der Partei der
Besserverdienenden noch die staatlichen Allmachtsphantasien
der selbsternannten Linken stellen wirkliche Optionen dar.
Es geht um eine Neudefinition der sozialen Marktwirtschaft
im Zeitalter der Globalisierung. Individuelle Freiheit und
soziale Sicherheit müssen in ein neues Verhältnis gesetzt,
die Kräfte des Marktes und gesellschaftliche Anforderungen
in Einklang gebracht und die Rechte kommender Generationen
ökologisch wie ökonomisch berücksichtigt werden. So wie wir
in der Umweltpolitik mit der Ausarbeitung des bündnisgrünen
Konzeptes von der Ökosteuer vom Zukunftspessimismus hin zu
marktkonformen Instrumenten gekommen sind, so müssen auch
die anderen Politikbereiche von dem Dunst des Bekenntnis-
und Glaubenszwangs befreit werden. Gute Anfänge sind gemacht
worden mit den Konzepten der Bundestagsfraktion zur Einkommenssteuer-,
zu Renten- und zur Verwaltungsreform. Auch wir haben vor fast
zwei Jahren mit unserem Diskussionspapier "STAA/RT 21 - Für
einen neuen Generationenvertrag" einen Vorschlag zur programmatischen
Erneuerung gemacht. Dieser Weg muß konsequent fortgesetzt,
hier müssen die Unterschiede zu den Positionen des Koalitionspartners
deutlich herausgestellt werden. Wir müssen dabei sehr viel
stärker auf die Überzeugungskraft unserer Konzepte setzen.
Unser Motto für die Zukunft: Überzeugen statt Belehren.
Eine solche GRÜNE Partei ist mehr als Adressat für das
schlechte Gewissen ihrer WählerInnen. DIE GRÜNEN müssen nicht
nur in Worten und Programmen, sondern in Taten und Regierungen
soziale Verantwortung mit freiheitlicher Lebenseinstellung
verbinden. Hier könnte auch ein wesentlicher Unterschied zur
SPD liegen, die zerissen zwischen Modernisierern und Traditionalisten
von der neuen Mitte redet, aber wie die alte Linke handelt.
Die Erwartungen und Forderungen des veränderungsbereiten Teils
unsere Gesellschaft aufzugreifen und auch wenn die Umfragen
mal schlecht sind, dabei zu bleiben, das könnte ein Markenzeichen
grüner Politik werden. Die neue Positionierung wäre auch eine
klare Kampfansage an die FDP. Sie würde unter Beweis stellen,
daß ökonomische Kompetenz nicht mit sozialer und ökologischer
Verantwortungslosigkeit einhergehen muß. Sie wäre einerseits
auch ein Angebot an alle, die gut verdienen und wissen, daß
Eigentum verpflichtet. Andererseits würde es den schwächeren
Menschen zeigen, daß es noch eine politische Kraft gibt, die
ihnen helfen will und nicht den verkrusteten Strukturen der
Sozialstaatsbürokratie. Wir wollen das brachliegende Erbe
des verantwortungsvollen Liberalismus aufnehmen und mit dem
Eintreten für Ökologie und Generationengerechtigkeit verbinden.
Mit diesem Konzept würden die GRÜNEN wieder die Lücke füllen,
die SPD und CDU lassen. Sie wären wieder eine Alternative
zu dem klassischen Politikangebot.
Ein neuer politischer Stil kombiniert mit dem Willen zu einer
inhaltlichen Erneuerung müssen den Grundstock für eine
zügige, umfassende Debatte über ein neues Grundsatzprogramm
von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bilden. Hier muß die Partei sich
entscheiden, ob sie alte Zöpfe abschneiden, die Botschaften
für die Zukunft festlegen und ihren Platz im Parteiengefüge
neu bestimmen will. Das wird nicht aus eigener Kraft gelingen.
Die Partei muß sich öffnen, die Fenster weit aufmachen, damit
sich der modrige Mief des Dachbodens nicht gleich wieder in
die Umzugskisten einschleicht. Verläßt man den Dunstkreis
des eigenen Dachbodens stellt man fest, daß es auch anderswo
schöne Wohnungen bzw. gute politische Konzepte gibt. Die Grünen
waren einmal die Speerspitze de politischen Wandels. Heute
ist die Gesellschaft oftmals weiter als die Politik. Wir sollten
den Mut zur Wirklichkeit aufbringen und uns mit Neuem konfrontieren.
Damit der programmatische Umzug gelingen kann, braucht es
viele Helferinnen und Helfer: Wer will, daß die GRÜNEN
sich ihrer Verantwortung stellen, die Rolle als Regierungspartei
annehmen, ihrem Außenminister nicht in den Rücken fallen,
sondern ihn unterstützen, der sollte nicht länger zuschauen,
sondern mitmischen: Bessermachen nicht Besserwissen ist gefragt!
Wir werden in unseren jeweiligen Landes- und Kreisverbänden
dafür streiten, daß BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den beschwerlichen
Weg der Erneuerung ihres Politstils und ihres Programms auf
sich nehmen. Ohne neue Mitglieder und Unterstützung von außen
wird der Kraftakt allerdings kaum gelingen. Alle Sympathisantinnen
und Sympathisanten, die bisher den Schritt in die Partei gescheut
haben, sollten neuen Mut schöpfen und über ihren eigenen Schatten
springen: Wer meint, daß die Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eine Zukunft haben sollte, kann nicht zusehen, sondern muß
anpacken. Wir machen daher - auch als klare Antwort auf basisgrüne
Abspaltungsbewegungen - das Angebot eines Forums zum Austausch
der Erfahrungen in der Partei, Hilfe beim Einklinken in Diskussionszusammenhänge
und der Errichtung des neuen programmatischen zu Hause von
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Unterzeichner
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